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Der Tagesspiegel, 23. Juli 2004, S. 28

Weniger essen, länger leben
Wer fastet, altert nicht so schnell – eine Vermutung, für die es immer mehr Indizien gibt

von Peter Spork

Es war 1915, als ein paar Laborratten an der Yale University in New Haven, Connecticut, deutlich zu alt wurden. Thomas Osborne und Lafayette Mendel wollten eine kurz zuvor aufgestellte Theorie bestätigen: Lebewesen, die wenig Nahrung zu sich nehmen, verbrauchen weniger Energie und altern deshalb langsamer. Die Ernährungswissenschaftler setzten einige Ratten dauerhaft auf Diät – und hatten damit Erfolg.

Spätere Versuche mit Würmern, Hefepilzen, Fliegen und Mäusen brachten das gleiche Resultat. „Die Effekte der Kalorieneinschränkung finden sich in nahezu jeder getesteten Art“, sagt der Biochemiker Stephen Spindler von der University of California in Riverside. Ihm und seinen Kollegen gelang jetzt ein Experiment, das darauf hindeutet, dass die meisten Organismen genetische Programme besitzen, die sie bei Bedarf aktivieren, um Alterungsprozesse aufzuhalten.

Spindler reduzierte die Nahrung bei Mäusen und analysierte über die folgenden Monate hinweg die Aktivität sämtlicher Gene in den Leberzellen der Tiere. Nach etwa zwei Monaten zeigte die Schmalkost Wirkung: Viele Gene wurden nun häufiger oder seltener in Eiweiße übersetzt, meist solche, die den Stoffwechsel verändern oder als Wachstumsfaktoren, Immunboten und Entzündungsvermittler dienen (veröffentlicht im Fachblatt „PNAS“, Band 101, Seite 5524). Diese breite körperliche Umstellung dürfte erklären, was Forscher immer wieder beschreiben: Fasten verlangsamt chronisch-entzündliche Prozesse und die Wucherung bösartiger Zellen. Dadurch bremst es das Auftreten oder Fortschreiten typischer Altersleiden wie Diabetes, Arteriosklerose und Krebs. Spindlers Mäuse zum Beispiel lebten – vor allem weil ihr Tumorrisiko sank – durchschnittlich fünf Monate länger als nicht hungernde Artgenossen.

Manche Menschen fasten angesichts solcher Resultate schon seit Jahren. Dass ihre Hoffnung auf ein extra langes Leben ohne Krebs und Herzinfarkt bislang nur von Tierversuchen untermauert wird, ficht sie nicht an. In den USA haben sie eine „Gesellschaft zur optimalen kalorienreduzierten Ernährung“ gegründet. Achtzehn ihrer 900 Mitglieder, die jeden Tag nur fast die Hälfte der durchschnittlichen amerikanischen Kalorienmenge von 2000 bis 3500 Kalorien essen, hat sich jetzt ein italienisch-amerikanisches Ernährungswissenschaftlerteam um Luigi Fontana genauer angeschaut.

Und tatsächlich scheint es den fastenden Menschen in mancher Hinsicht ganz ähnlich zu ergehen wie hungernden Mäusen: Risikofaktoren für das Auftreten von Alterskrankheiten sind bei ihnen ungewöhnlich schwach ausgeprägt. Cholesterin- und Körperfettwerte, Entzündungsindikatoren, Blutdruck und vieles mehr lassen sie um Jahre verjüngt erscheinen.
Damit ist zwar kaum etwas bewiesen, zum einen, weil die Gruppe viel zu klein ist, zum anderen, weil offen bleibt, ob die Wenigesser mit ihren beeindruckenden Laborwerten tatsächlich länger leben. Doch das Resultat passt.

„Mich wundert das Ergebnis nicht“, sagt Ernst Hafen, Biologe an der Zürcher Universität, der seit Jahren Fruchtfliegen-Gene aufspürt, die Entwicklung und Altern steuern: „Warum soll die Lebensverlängerung durch Fasten ausgerechnet beim Säugetier Mensch nicht funktionieren?“ Zumal Forscher immer wieder verwandte Gene entdeckt hätten, die ähnliche Entwicklungsschritte steuerten. „Dabei geht es um Prozesse, die so grundsätzlich sind, dass schon die gemeinsamen Vorfahren vor 600 Millionen Jahren mit ihnen die gleichen Probleme lösten.“

Eines dieser Probleme ist die Reaktion auf Hungersnöte: Energiesparen ist angesagt – also Nachwuchsproduktion aussetzen, Wachstum einschränken. „Lieber eine kleine sterile Fliege, die herumfliegen und Nahrung suchen kann, als eine verhungerte“, sagt Hafen. Weil diese Fliege ihre Gene aber – vorübergehend– nicht weitergibt, ist der gleichzeitige Alterungsstopp sinnvoll: Ihn vermitteln Enzyme, die aggressive Sauerstoffradikale unschädlich machen, sowie Eiweiße, die Schäden an der Erbsubstanz reparieren oder Entzündungsherde unterdrücken. Das hält die Fliege jung, bis es wieder genug zu fressen gibt, sie Nachwuchs bekommen kann und es – biologisch gesehen – einen Nutzen hat, zu altern und der nächsten Generation Platz zu machen.

Reine Spekulation? Nicht ganz. Bei Würmern, Fliegen und Säugetieren sind die Auslöser des Überlebensprogramms gleich. Das Sinken des Hormons Insulin zum Beispiel spielt dabei eine entscheidende Rolle. Insulin wird beim Essen ausgeschüttet. Und egal bei welchem Organismus: Immer, wenn Forscher in den „Insulinweg“ eingreifen, drehen sie an der Lebensuhr.

Schon vor zehn Jahren entdeckten sie einen Fadenwurm, der doppelt so lange lebt wie seine Artgenossen, weil ein Insulin-Empfänger nicht richtig funktioniert. Im Frühjahr 2004 fand Ralf Baumeister von der Uni Freiburg im Breisgau bei Würmern der gleichen Art ein Schlüsselenzym, das von Insulin aktiviert wird und darüber entscheidet, „ob das lebensverlängernde Programm an- oder abgeschaltet wird, indem es viele Gene gleichzeitig beeinflusst“.

Eine Verjüngungspille sehen Forscher aber noch lange nicht am Horizont. Den Insulingehalt medikamentös zu drosseln, sei viel zu riskant, sagt Hafen. Das wirke nicht, oder es löse Diabetes aus. Auch Baumeister glaubt, dass man viel genauer eingreifen müsste. „Wenn es eines Tages gelingt, die Signalwege gezielt zu beeinflussen, lassen sich typische Alterserscheinungen wie Krebs vielleicht bremsen.“ Das langfristige Risiko solcher Eingriffe in den menschlichen Stoffwechsel dürfe aber niemand unterschätzen.

Vorerst scheint das dauerhafte Fasten also der einzige wissenschaftlich halbwegs untermauerte Weg der gezielten Lebensverlängerung zu sein. Er ist freilich nicht jedermanns Sache. Der Forscher Ernst Hafen würde der Kalorienreduktionsgesellschaft jedenfalls nie beitreten: „Dazu esse ich einfach zu gern.“
© Peter Spork

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