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Hamburger Abendblatt, 28. Oktober 2004, S. 3
Chronobiologie ist eine eigene Wissenschaft
Wie ticken Mensch, Pilz, Pflanze, Tier? Forscher finden immer mehr Antworten

Von Peter Spork

Was der deutsche Physiologe Jürgen Aschoff Mitte der 60er Jahre in den Berg nahe dem bayerischen Andechs hauen ließ, hatte schnell den Namen Bunker weg. Zwei Räume ohne Uhren, Fernseher, Telefon und Tageslicht, abgeschirmt durch meterdicke Mauern und Doppeltüren bildeten ein Versuchsareal, das nur einen Zweck erfüllte: den Zugang zu jeglicher Information über die Zeit vorzuenthalten.

Noch war die Mehrheit der Forscher überzeugt, Lebewesen hätten keine inneren Uhren. Alles rhythmische Verhalten – sei es das Öffnen der Blätter einer Pflanze vor Morgengrauen, das einsetzende Zwitschern von Singvögeln oder der menschliche Schlafzyklus – seien Reaktionen auf die Natur. Das wollten viele Biologen nicht länger hinnehmen und gründeten eine neue Wissenschaft: die Chronobiologie.

Das Experiment im Andechser Bunker machte bald klar: Wir haben eine physiologische Zeitmessung, die ohne Wecker und Sonnenaufgang auskommt – und die durch Zeitumstellungen zur Sommer- oder Winterzeit durcheinandergeraten kann. Im Abstand von 24 bis 26 Stunden gingen fast alle Bunkerbewohner zu Bett. Es fand sich sogar eine zweite Uhr. Sie läßt die Körpertemperatur systematisch um ein Grad täglich schwanken.

Seitdem explodiert das Wissen über die Uhren der Natur. Fast alle Lebewesen haben sie, selbst Bakterien, die seit 3,5 Milliarden Jahren existieren. Bei Menschen haben sogar Organe ihre eigenen Uhren. Und auch die Existenz von inneren Kalendern oder Mond- und Gezeitenuhren scheint zweifelsfrei belegt. “In Säugetieren existieren mehr Eigenschaften, die von Uhren kontrolliert werden, als man sich vorstellen kann”, sagt der US-Chronogenetiker Jay Dunlap. Vielzellige Organismen seien “regelrechte Uhrengeschäfte”. Seit wenigen Jahren ist klar, daß fast alle Bio-Uhren ähnlich funktionieren und selbst Maus und Fliege, deren Stammbäume 700 Millionen Jahre entfernt sind, verwandte Uhr-Gene besitzen.

Gleich zweimal – 1998 und 2002 – wählte das führende Wissenschaftsmagazin “Science” chronobiologische Themen zu den wichtigsten Forschungsergebnissen. Nur wenige Gebiete können sich über einen ähnlichen Boom freuen. Denn die moderne 24-Stunden-Gesellschaft braucht die Chronobiologie. Elektrisches Licht, Fernreisen und Schichtarbeit erschweren zunehmend das Leben im Einklang mit den physikalisch vorgegebenen Zeiten. Die Menschen berauben sich der Rhythmen der Natur – das macht viele krank.

Um diese Krankheiten zu bekämpfen, entschlüsseln Forscher die Bausteine der biologischen Zeitmessung, erforschen die Strukturen im Gehirn, die das zeitliche Geschehen organisieren und ergründen, wie sich die Uhren mit der Außenwelt abstimmen. Aus ihren Erkenntnissen entwickeln sie Methoden, die den Umgang mit Schichtarbeit und Jetlags, mit Winterdepression und Schlafstörungen erleichtern.

Herzstück jeder Bio-Uhr ist ein Pendel in den Genen, das bereits in einer einzelnen Zelle schwingt. Die Gene enthalten Baupläne für Eiweiße, die ihre eigene Produktion unterdrücken. So kann die Konzentration eines Eiweißes in der Zelle ansteigen, bevor es langsam beginnt, sich selbst den Hahn zuzudrehen. Irgendwann überschreitet die Menge des Eiweißes ein Maximum. Nun sinkt es wieder ab, bis die Hemmung seines Uhren-Gens erneut aufgehoben wird und alles von vorne beginnt. Uhren-Gene beeinflussen auch das Ablesen weiterer Gene, deren Produkte im gleichen Rhythmus auf und nieder schwingen.

“Die gesamte Biochemie aller Zellen des Körpers unterliegt einer klaren Tagesstruktur”, weiß Till Roenneberg, Deutschlands erster Professor für Chronobiologie von der Universität München. Körper und Geist leisten folglich nicht zu jeder Zeit gleich viel: Das Kurzzeitgedächtnis arbeitet morgens am besten, das Langzeitgedächtnis am frühen Nachmittag. Komplexe Probleme bewältigt man kurz vor Mittag am ehesten. Am späten Nachmittag sollen Muskelkraft, Ausdauerfähigkeit und der Kreislauf ihr Tageshoch aufweisen.

Doch Vorsicht: Auch chronobiologisch gesehen ist kein Mensch wie der andere. “Die Gene der inneren Uhren werden vererbt und prägen jeden Menschen auf individuelle Rhythmen”, sagt Roenneberg. Regelrechte Nachtmenschen gehen erst ins Bett, wenn extreme Frühaufsteher gerade wach werden. Neue Resultate erklären gar, was Leistungssportler schon lange in Trainingsplänen umsetzen: Wer zur Tageszeit des nächsten Wettkampfs trainiert, dem helfen innere Uhren, genau dann topfit zu sein, etwa indem sie Muskeln besonders viel Energie zur Verfügung stellen.

Leben zur falschen Zeit: Gestörte Zyklen und ihre Therapie

Schlafstörungen: Nicht jede hat mit der inneren Uhr zu tun. Aber wenn Bio-Rhythmen aus dem Takt geraten, ist schlechter Schlaf meist erstes Warnsignal. Man sollte viel ans Tageslicht gehen und sich bewegen. Abends sollte man wenig aktiv sein. Dadurch findet die innere Uhr leichter den richtigen Takt.

Schichtarbeit: Vor allem Wechselschichten lösen Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Krankheiten, innere Unruhe und Infektanfälligkeit aus. Chronobiologen versuchen, mit Lichttherapie und Melatonin die Rhythmen zu normalisieren. Schichten sollten im schnellen Wechsel von früh nach nachts rotieren.

Jetlag: Man sollte sich für die Eingewöhnung an eine neue Zeitzone etwa so viele Tage Zeit lassen, wie man um Stunden versetzt worden ist. Westflüge werden meist besser vertragen, weil es leichter fällt, die Uhr zurück- statt vorzustellen. Zwei bis fünf Milligramm Melatonin, die ersten Tage nach der Ankunft vor dem Zubettgehen, sollen die Umstellung erleichtern.

Sommerzeit: Die Zeitumstellung macht vielen Menschen Probleme, und die Menschen bekommen falsche Lichtsignale, weil sie abends zu lange Tageslicht ausgesetzt sind. Das verzögert ihre biologischen Rhythmen.

© Peter Spork

Buchtipp: Der Autor des Artikels hat ein Buch über Chronobiologie verfasst: Peter Spork: Das Uhrwerk der Natur. Chronobiologie – Leben mit der Zeit. rororo science, 218 S., 8,90 Euro.

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