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Die Zeit Nr. 44, 28. Oktober 2010, S. 39-40

Wir Unausgeschlafenen

Unser hektischer Alltag erzeugt chronischen Schlafmangel. Erwachsene kann er in den Burn-out treiben und Schulkinder zu Zappelphilippen machen. Wir brauchen eine neue Schlafkultur!

Von Peter Spork

Wer kennt ihn schon, den Tag des Schlafs am 21. Juni? Er ist ähnlich belanglos wie der internationale World Sleep Day im März. Wirkungsvoller ist der kommende Sonntag, an dem die Uhr eine Stunde zurückgestellt wird. An diesem Tag wird uns allen eine Stunde Schlaf geschenkt. Die haben wir bitter nötig. Denn viele von uns sind chronisch übermüdet – und die meisten merken es nicht einmal.

So wie die Tänzerinnen des Berliner Staatsballetts, die der Mediziner Ingo Fietze untersuchte. Fast zehn Wochen lang führten sie ein Tagebuch, in dem sie ihre Schlafzeiten vermerkten. Zugleich trugen sie sogenannte Aktometer am Handgelenk, die entfernt an Digitaluhren erinnern und jede Bewegung aufzeichnen. Damit konnte Fietze, Schlaflaborleiter an der Berliner Charité, für jede Ballerina ein unbestechliches Tätigkeitsprofil erstellen. Wann war sie aktiv, wann schlummerte sie friedlich, wann wälzte sie sich schlaflos im Bett? Der Vergleich zwischen den Tagebuchnotizen und seinen Daten zeigte: Viele der Untersuchten überschätzten ihre Ruhezeiten und häuften ein beachtliches Schlafdefizit an.

Die Berliner Ballerinen sind typische Vertreter unserer Leistungsgesellschaft – junge, gut trainierte Menschen, die einen fordernden Job bewältigen. Ebenso typisch ist, dass sie zu wenig Schlaf bekommen und dafür das Gespür verloren haben. Denn wir sind die »schlaflose Gesellschaft« – so der Titel eines Symposiums der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, das Anfang Oktober in Berlin stattfand. Die Bilanz der Experten: Im hektischen Alltag bekommen heute viele Menschen zu wenig Schlaf. Und darunter leidet das körperliche wie das seelische Gleichgewicht. Wer zu wenig schläft, wird leichter Opfer eines Burn-outs, er erhöht sein Risiko für Übergewicht und Diabetes ebenso wie für Depressionen und Angsterkrankungen. Und bei Kindern gilt Schlafmangel inzwischen sogar als Auslöser für Hyperaktivität.

Nach allen Regeln ihrer Kunst erforschen Wissenschaftler heute die Nachtruhe. Sie verteilen Aktometer, verkabeln Testschläfer in Schlaflaboren, werten Tausende Fragebögen aus. So belegen sie empirisch, wie der Schlaf an Raum verliert. »Die Menschen in westlichen Ländern schlafen im Durchschnitt etwa eine Stunde weniger als vor 20 Jahren«, fasst Thomas Pollmächer, Schlafmediziner und leitender Psychiater am Klinikum Ingolstadt, die Datenlage zusammen.

Als ideale Schlafdauer für die Mehrheit der Erwachsenen gelten sieben bis neun Stunden. Allerdings gibt es enorme Unterschiede. Für einige wenige sind schon fünf Stunden genug, andere brauchen mindestens zehn Stunden Schlaf. Umfragen zufolge schläft der Deutsche im Schnitt sieben Stunden und acht Minuten. Das heißt aber auch: Viele schlafen deutlich länger, andere sehr viel kürzer. Zu den Unausgeschlafenen gehören vor allem Leistungsträger – und Schüler. Kurz gesagt: all jene, die am Wochenende oder in den Ferien das Bedürfnis haben, einmal richtig auszuschlafen.

Warum gönnen wir uns nicht mehr Zeit zwischen den Kissen? »Mehr Schichtarbeit, mehr Medienkonsum, längere Ladenöffnungszeiten«, zählt Pollmächer die Ursachen auf. Oft wird einfach zu viel gearbeitet. 1,7 Millionen Erwerbstätige in Deutschland arbeiten laut Statistischem Bundesamt pro Woche 60 oder mehr Stunden. »Und je mehr die Menschen arbeiten, desto weniger schlafen sie«, sagt Mathias Basner. Der Forscher von der University of Pennsylvania in Philadelphia hat das Schlafverhalten empirisch ausgewertet und festgestellt: Viele Menschen stehen morgens extra früh auf, um abends keine Freizeit zu opfern. Zu Bett gehen dann alle fast zur selben Zeit, meist nach der Lieblingssendung im Fernsehen. »Es ist absurd«, so Basner, »alle wissen, wie gut Schlaf tut, doch den meisten ist fast alles andere wichtiger.«

Dabei hat die Forschung längst gezeigt, wie notwendig der Nachtschlaf ist. Währenddessen werden Organe und Gewebe regeneriert, Infekte bekämpft, Eindrücke verarbeitet, wichtige Erinnerungen verfestigt und unwichtige verworfen. »Wir müssen schlafen, um geistig und immunologisch fit zu bleiben«, bilanziert der Lübecker Endokrinologe Jan Born. Wer ausreichend schlafe, betreibe »aktives Anti-Aging«. Warum wir uns diese Wellness vorenthalten? Vielleicht weil das Gefühl fürs rechte Maß so leicht abhandenkommt.

Das zeigt ein berühmt gewordenes Experiment des US-Psychiaters David Dinges. Tagsüber quälte er seine Probanden mit Leistungstests, nachts gönnte er ihnen unterschiedlich lange Ruhe. Manche durften in seinem Schlaflabor in Philadelphia acht Stunden schlafen, andere nur sechs oder vier. Im Laufe der zweiwöchigen Experimentierphase zeigte sich: Nur die Ausgeschlafenen blieben auf der Höhe ihrer Leistung. Die anderen zeigten von Tag zu Tag größere Schwächen; je weniger Schlaf sie bekamen, umso schlechter wurden ihre Testergebnisse. Erstaunlich war allerdings, dass die Wenigschläfer nach etwa vier Tagen nicht mehr müder wurden, sondern sich regelrecht ans Übernächtigtsein gewöhnten. Offenbar macht uns anhaltender Schlafmangel also dümmer, ohne dass wir es merken.

Und wie holt man die versäumte Nachtruhe am besten auf? Reicht dazu ein Wochenende? In einer zweiten Studie gönnte Dinges seinen Testschläfern fünf Nächte lang jeweils nur vier Stunden Schlaf und ließ sie danach ausschlafen. Ergebnis: Nach dem Leistungsabfall unter der Woche wurden die Testergebnisse zwar durch längere Bettruhe besser; doch selbst zwei Nächte mit zehn oder mehr Stunden im Bett brachten keine vollständige Erholung, berichtet Mathias Basner, der zum Team von Dinges gehört: »Vieles deutet darauf hin, dass es ein Gedächtnis für Schlafmangel gibt.«

Dabei könnte man das »Schlafkonto« eigentlich leicht auffüllen – mit dem altbewährten Mittagsschlaf. Denn Forscher haben gezeigt, dass wir unsere Schlafration gar nicht am Stück brauchen; auch eine Siesta zwischendurch hilft. In Japan etwa wird deshalb der »Anwesenheitsschlaf« Inemuri praktiziert: Die Samurai erfanden ihn, um gleichzeitig wachen und schlummern zu können. Heute gilt in Japan ein Nickerchen am Arbeitsplatz – oder gar im Parlament – als Ausweis besonderen Eifers. Denn dabei erholt sich, wer besonders fleißig war.

In Deutschland dagegen mangelt es dem Kurzschlaf an kultureller Akzeptanz, wie die Bezirksverwaltung Charlottenburg-Wilmersdorf erleben musste. Als sie vor drei Jahren spezielle Räume für Nickerchen einrichten lassen wollte, scheiterte sie kläglich – und zwar an den eigenen Mitarbeitern. Die Beamten fürchteten die Häme der Bürger. Dabei könnten solche Ruheräume für viele Berufstätige ein Segen sein – zum Beispiel für Piloten, Lkw-Fahrer oder Schichtarbeiter, die häufig zu wenig Schlaf bekommen.

Profitieren würden auch Menschen mit besonders hohem Schlafbedarf oder mit verzögertem inneren Rhythmus. Je ein Fünftel der Deutschen gehöre zu diesen Lang- oder Spätschläfern, schätzt der Freiburger Schlafmediziner Dieter Riemann. Die einen benötigen – oft ohne es zu wissen – neun oder zehn Stunden Schlaf, gehen aber dafür nicht zeitig genug zu Bett. Die anderen werden unter normalen Umständen abends nicht rechtzeitig müde. Am gefährdetsten ist, wer beide, größtenteils genetisch bedingten Eigenschaften vereint: Zu diesen kombinierten Lang- und Spätschläfern gehören mindestens vier Prozent der Bevölkerung. Sie kämpfen sich chronisch unausgeschlafen durch den Arbeitstag, nicken häufig schon abends um acht Uhr auf dem Sofa ein und sind dann um elf Uhr, wenn sie eigentlich zu Bett gehen wollen, plötzlich wieder hellwach.

So gilt paradoxerweise gerade ständiges Unausgeschlafensein als Risikofaktor für Insomnie: Wer zu oft zu wenig Schlaf bekommt, läuft Gefahr, das Ein- oder Durchschlafen zu verlernen. Jeder zwanzigste Deutsche sollte sich deshalb in ärztliche Behandlung begeben. Viele Betroffene versuchen sich allerdings selbst zu kurieren. Statt ihren Lebensstil zu ändern, nehmen sie ständig Schlafmittel – bis diese eines Tages nicht mehr wirken.

Zu einer modernen Schlafkur gehört daher zunächst der Entzug von Schlafmitteln. Anschließend üben die Patienten, etwa mit kognitiver Verhaltenstherapie, Probleme zu erkennen, Gewohnheiten zu ändern, Schlafzeiten bewusst zu begrenzen. Wer lange falsch geschlafen hat, muss es oft erst mühsam wieder lernen.

Orangefarbene Isomatten und Beruhigungsmusik gehören seit Kurzem auch für einige Fünft- und Siebtklässler in Steinfurt im Münsterland zum Unterricht. »Viele Kinder können nicht mehr abschalten, schlafen zu wenig und stehen pausenlos unter Strom«, erklärt die Stressberaterin Gerlinde Lamberty. Deshalb übt sie mit den Kleinen nun Entspannungstechniken und klärt sie über den Wert des Schlummerns auf.

Zehn bis elf Stunden Nachtruhe empfehlen Experten für Grundschüler; Zwölfjährige brauchen im Mittel neuneinhalb Stunden Schlaf. Erst zum Ende des Teenageralters nähert sich das Schlafbedürfnis dem der Erwachsenen an. Doch »nur acht Prozent der Jugendlichen schlafen unter der Woche so viel, wie es gängigen Empfehlungen entspricht«, fand der Schlafmediziner Ulrich Voderholzer durch Umfragen heraus. Der längere Schulunterricht fordert seinen Tribut ebenso wie Sportverein, Fernsehen, Computerspiele und Internet.

Ohnehin werden Pubertierende von Natur aus später müde und deshalb morgens nicht rechtzeitig wach. Diesem Rhythmus zollt die St. George’s School in Middletown, USA, neuerdings Respekt. Sie verschob im vergangenen Schuljahr für neun Wochen den Unterrichtsbeginn von acht Uhr auf halb neun. Das zeitigte Wirkung: Hatte vorher nur ein Sechstel der 201 untersuchten Teenager mindestens acht Stunden pro Nacht geschlafen, war es nun über die Hälfte. Außerdem erwiesen sich die Schüler als aufmerksamer, sie gingen seltener zum Schularzt und waren weniger trübsinnig. Eine Mehrheit der Schüler und Lehrer forderte daraufhin mit Erfolg den permanenten späteren Schulbeginn. In Deutschland hat schon vor vier Jahren eine Statistik gezeigt, dass »Eulen«, die von Natur aus später einschlafen, signifikant schlechtere Abiturnoten haben als früh aufstehende »Lerchen«

Doch wie bemerken Eltern den Schlafmangel ihres Kindes? »Konzentrationsschwäche, gesteigerte Impulsivität und Tagesmüdigkeit«, zählt Oskar Jenni vom Universitäts-Kinderspital Zürich die Symptome auf. Zwar gebe es auch bei Kindern große Differenzen: Manchen genügten acht, anderen erst elf Stunden Schlaf. Ein Alarmsignal sei aber, wenn der Nachwuchs am helllichten Tag bei einer halbstündigen Autofahrt wegnicke: »Schulkinder können tagsüber eigentlich nicht schlafen.«

Schülern hilft der Schlaf vor allem bei der Gedächtnisbildung: Befreit von äußerem Input, wiederholt und festigt das Gehirn jene Lerninhalte, die es sich zuvor angeeignet hat. Gerade der lange Schlaf der Kinder ermögliche ihnen ihre »extremen Fähigkeiten beim Lernen«, sagt der Lübecker Jan Born. Dass die Leistungen im Alter abnähmen, liege auch daran, dass die Menschen dann immer weniger tief schliefen.

Regelmäßig genug zu schlafen würde also allen nützen: Alten und Jungen, Kranken, Gefährdeten und auch den rundum Gesunden. Schon vergleichsweise simple Maßnahmen versprechen große Vorsorgewirkung. Sieben zentrale Forderungen für eine ausgeschlafene Gesellschaft lauten deshalb:

1. Schlaf und Entspannung verdienen in der Gesundheitsvorsorge denselben Stellenwert wie Bewegung und ausgewogene Ernährung.

2. Die Sommerzeit verschiebt die Rhythmen vieler Menschen nach hinten – und erschwert so das Einschlafen. Sie gehört abgeschafft!

3. Arbeitszeiten müssen flexibler werden – nur so vertragen sie sich mit dem individuellen Schlafrhythmus und -bedarf vieler Menschen.

4. Die Schule sollte später beginnen. G8-Gymnasien sollten Lehrpläne entschlacken oder zu neun Schuljahren zurückkehren.

5. Fördern wir Nickerchen am Arbeitsplatz.

6. Mehr Rhythmus! Arbeit und Unterricht brauchen Unterbrechungen – damit wir uns bewegen und entspannen können. Und abends sollten wir früher ins Bett gehen.

7. Erkennen wir den enormen Einfluss an, den das Tageslicht auf unseren inneren Rhythmus hat. Hören wir auf ihn!

Beim Berliner Staatsballett hat man bereits umgedacht: Wenn sich schon an der körperlichen Belastung, dem Lampenfieber oder dem Druck auf die Tanzprofis nichts ändern ließ, so sollten diese wenigstens ihrem Schlafbedürfnis gehorchen können! Ingo Fietze richtete einen Ruheraum ein, still, entspannend, zum Nickerchen einladend. Gerade plant der Schlafforscher eine Folgestudie. Eines weiß er schon jetzt: »Der Ruheraum ist dauernd besetzt.«
© Peter Spork

Stress ohne Schlaf

Das Burn-out-Syndrom und das »Zappelphilipp-Leiden« ADHS ließen sich bei vielen Betroffenen womöglich einfach durch mehr Schlaf vermeiden. Mit Ausgebranntsein reagiert der Körper von Erwachsenen auf Dauerstress – gegen den die beste Vorsorge lautet: häufig ausschlafen, früher zu Bett gehen, tagsüber Pausen und Nickerchen einlegen. Und so wie die Leistungsgesellschaft unausgeschlafene Erwachsene in den Burn-out treibe, sagt der Freiburger Somnologe Dieter Riemann, »so sind einige Kinder mit ADHS vielleicht unerkannte Langschläfer, die nicht genug Zeit zum Schlafen bekommen«.

Unter Kinderärzten sorgte vergangenes Jahr eine Studie aus Finnland für Aufsehen: Sieben- und Achtjährige, die mit 7,7 Stunden für ihr Alter zu wenig Schlaf bekamen, waren deutlich zappeliger als Normalschläfer. Ergebnisse einer US-Studie von 2006 runden das Bild ab: Kinder, die ihr eigenes Schnarchen im Schlaf störte, erhielten oft die Diagnose ADHS. Wurde das Extremschnarchen behandelt, beruhigten sie sich jedoch. Deshalb rät auch der Zürcher Kinderarzt Oskar Jenni: »Ein gewisser Prozentsatz der ADHS-Kinder sollte einfach länger schlafen.«
© Peter Spork

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